Man könnte meinen, Kinder seien kleine, unfertige Menschen, die die Welt noch nicht verstehen und denen es an Vernunft mangelt. Vielleicht kommt daher das Konfliktpotenzial zwischen ihnen und den Erwachsenen. Oder es ist ganz anders: Kinder können Dinge, die wir längst verlernt haben. Sie sind uns vielleicht sogar überlegen. Wie man es auch dreht und wendet, es gibt gravierende Unterschiede: Wie ist das also? Sind Kinder andere Wesen? Und was hilft uns, einander besser zu verstehen?
Auch wenn wir mit Kindern leben – wir verstehen sie nicht immer richtig, denn Kinder ticken ganz anders als wir Erwachsenen. Diese Erfahrung machte auch die Autorin Michaeleen Doucleff, nachdem sie Mutter geworden war. Nach einer Phase der Überforderung und Verzweiflung begab sie sich mit ihrer kleinen Tochter Rosy auf eine anthropologische Entdeckungsreise zu indigenen Gemeinschaften. Sie stellte fest: Wie unser Verhältnis zu Kindern ist, hat vor allem mit den Erwachsenen zu tun. Um Kinder besser zu verstehen, müssen wir zuerst ihre Perspektive einnehmen, und das ist nicht immer einfach. Denn Kinder sehen und nutzen die Welt zum Teil ganz anders als Erwachsene, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Hannelore Faulstich-Wieland. Während Erwachsene oft ritualisierte Strukturen und Gewohnheiten haben, sind Kinder im permanenten Erkundungsmodus. Den neurobiologischen Hintergrund liefert der Hirnforscher Gerald Hüther. Er erklärt, was das Gehirn mit einer Zwiebel gemeinsam hat und dass Kinder so viele Nervenverbindungen haben wie kein Erwachsener und deshalb die Welt viel offener erleben und mit Freude und Neugier gestalten – wenn man sie dabei unterstützt. Dass Erziehung und Gesellschaft Kinder auch einschränken können, zeigt die Langzeitstudie ELFE (Étude Longitudinale Française depuis l’Enfance) in Frankreich. Studienleiterin Marie-Aline Charles fasst zentrale Beobachtungen zusammen – zum Beispiel, dass die Grundschule offenbar dazu führt, dass Mädchen schlechter in Mathe sind als vorher. Doch selbst wenn die Gesellschaft die Kinder formt, verändern Kinder umgekehrt auch immer die Gesellschaft.