SAP dominiert die IT-Systeme vieler Unternehmen. Gegenwärtig zwingt der Softwarekonzern seine Kundschaft zu einem Update, das Millionen verschlingt – und für viele keinen echten Mehrwert bringt. Doch die Abhängigkeit ist von SAP ist zu gross.
Die Migros nennt ihr grösstes IT-Projekt der Firmengeschichte «Eiger». Zufällig gewählt ist der Name wohl nicht: Die Umstellung auf die neue SAP-Version, sie heisst S/4 Hana, gleicht der Gipfelbesteigung eines unsportlichen und ungeübten Berggängers. Fünf bis sieben Jahre arbeitet man in der Migros bis zum Projektabschluss. Derzeit befindet sich «Eiger» auf Kurs, man ist ungefähr auf Höhe Mittelstation und «im Zeitplan», so die Projektleiterin Franziska Reist zur NZZ. Die Migros ist nicht das einzige Unternehmen, das sich mit diesem Thema beschäftigt.
Der deutsche SAP-Konzern gehört zu den weltweit führenden Anbietern von Unternehmenssoftware und zählt mehrere hundert Schweizer Kunden, darunter auch die Bundesverwaltung. Diese nutzen SAP-Lösungen für zentrale Geschäftsprozesse wie Finanzbuchhaltung, Logistik und Personalmanagement.
Wie viel Geld das Vorhaben die Migros kostet, will Reist nicht verraten. Zwar helfe das Update dabei, Prozesse zu standardisieren, was den Betrieb effizienter mache. Aber Reist spricht von einer «Ersatzinvestition». Dabei handelt es sich per Definition um eine Investition zur Aufrechterhaltung der betrieblichen Leistungsfähigkeit. Will heissen: Es wird nur der Status quo gesichert, eine Zusatzrendite fällt nicht ab. Die Migros investiert also mehr ins SAP-Update, als sie langfristig mit dem Betrieb der neuen Version sparen kann.
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Der Zwang zur Cloud
Warum nimmt der Konzern dann die Mühe und die Kosten auf sich? Weil die Migros wie jeder andere SAP-Kunde zu diesem Update und damit zum Umzug in eine Cloud-Umgebung gezwungen wird. Spätestens nach dem Jahr 2030 gibt es für ältere Versionen der Software weder Support, Innovationen noch Sicherheits-Updates. Ein Zustand, mit dem kaum ein Unternehmen leben will.
«SAP ist selbstbewusst», so nennt es Franziska Reist. Der Konzern weiss, dass in vielen Unternehmen betriebskritische Prozesse von SAP abhängig sind und ein flächendeckender Wechsel des Anbieters kaum Sinn ergibt. Die Migros ist wie viele andere Grosskonzerne mit SAP «verheiratet», wie Reist sich ausdrückt. In der Fachsprache heisst das Vendor-Lock-in-Effekt (Einschliessungseffekt) und bedeutet, dass der Wechsel des Anbieters oft noch teurer und mühsamer wäre, als die «Update-Kröte» zu schlucken. Deshalb hat die Migros gar nicht erst Alternativen geprüft. Das wäre eine reine «Phantasiebefriedigung» gewesen, sagt Franziska Reist. Nicht weil es keine Alternativen auf dem Markt gäbe, die amerikanischen Unternehmen Oracle und Microsoft bieten Vergleichbares. Nein, es wäre eine Phantasieübung gewesen, weil die Kosten für einen Wechsel aufgrund der historisch gewachsenen Abhängigkeit in keinem Verhältnis zum Nutzen gestanden hätten. SAP ist systemkritisch, bei der Migros hängt neben Finanzen und HR auch das ganze Warenmanagement an der Software.
So wie der Migros geht es vielen Unternehmen und Institutionen. Auch das Universitätsspital Zürich (USZ) hat sich mit der Frage auseinandergesetzt und ist zu dem Schluss gekommen, dass «SAP weiterhin die richtige Lösung für die heute eingesetzten Bereiche ist», wie Guru Sivaraman, Technologieverantwortlicher und Geschäftsleitungsmitglied, sagt. Auf die Frage, ob auch das USZ vom Anbieter abhängig sei, sagt Sivaraman: «Unser Betrieb ist von jedem wichtigen IT-System abhängig.» Kosten und Risiken seien durch das Update besser einschätzbar als bei einer Migration auf ein anderes System.
Genau deshalb würden «gewisse SAP-Kunden Mühe bekunden», so Yves Dennler vom Beratungsunternehmen Accenture. Auch er bestätigt, dass die wenigsten Kunden den Anbieter wechseln, wenn sie sich einmal für eine Softwarelösung entschieden haben. Betroffene gibt es viele. «Grossunternehmen und Konzerne mit Hauptsitz in der Schweiz nutzen so gut wie alle SAP», so Dennler. Auch bei mittelständischen Unternehmen ab 500 Millionen Franken Umsatz und mit 1000 Mitarbeitenden aufwärts dominiert das Softwarehaus mit Hauptsitz im deutschen Walldorf in der Nähe von Mannheim.
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Das Dilemma der Kunden
Den Ärger in Zahlen erfasst hat die Interessengemeinschaft IG SAP Schweiz. In einer Umfrage aus dem Jahr 2023 gaben 97 Prozent der befragten SAP-Kunden an, dass sie die Produktstrategie des Konzerns «kritisch betrachten». Das Vertrauen der Kunden habe in den letzten zwei Jahren um 42 Prozent abgenommen, so die Studie. Knapp mehr als die Hälfte (51 Prozent) beurteilen darin die eigene Zufriedenheit mit den Dienstleistungen von SAP als «schlecht oder es geht so». Und fast ein Drittel der Kundschaft ist mit «Konditionen, Lizenzen und Wartungsleistungen unzufrieden».
Remo Schneider, Leiter IG SAP Schweiz, wird deutlich: SAP zwinge die Unternehmen nicht ohne Grund in Richtung Cloud, denn damit binde der Anbieter seine Kunden noch enger an sich. Und wer einmal einen Anbieter für Logistiksoftware gewählt habe, komme fast nicht mehr weg, da ein Wechsel mit Kosten in mehrfacher Millionenhöhe verbunden sei. De facto kann SAP somit die Preise diktieren: «In den Cloud-Standardverträgen ist eine jährliche Teuerung von 3,3 Prozent vorgesehen.»
Diese Klausel bringe nur weg, wer eine gute Verhandlungsposition habe, «alle anderen zahlen jedes Jahr mehr». Seine Organisation sei deshalb in regelmässigem Austausch mit SAP, dem Preisüberwacher und den Wettbewerbsbehörden. «Wir formulieren die Erwartungen seitens der SAP-Kunden, suchen den Dialog und schauen, dass es SAP nicht zu wohl wird in der Produkt- und Preisgestaltung», sagt Schneider. Für ihn sei wichtig, dass SAP seine Marktmacht «nicht überstrapaziert und einvernehmliche Lösungen zugunsten der SAP-Kunden gefunden werden».
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Wechsel und Eigenentwicklungen
Den Wechsel weg von SAP wagen wenige Unternehmen, die Zahl dürfte sich im tiefen einstelligen Prozentbereich bewegen. Zur Minderheit zählt etwa der Chipshersteller Zweifel, der sich nach einer «umfassenden Evaluation für ein Nachfolgesystem» für den Schweizer Anbieter Abacus entschieden hat. «Flexibilität, Offenheit und Nähe» seien Faktoren gewesen, die mit diesem Partner gegeben seien, so die Projektleiterin Anita Binder auf Anfrage der «NZZ am Sonntag». Auch das Zürcher Medienhaus TX Group hat das System getauscht und sich für den amerikanischen Anbieter Workday entschieden. Bei der Wahl seien Kriterien wie «Zukunftsfähigkeit, Flexibilität, Skalierbarkeit sowie die langfristigen Kosten für ERP und die zu erwartenden Ersparnisse in der Organisation» entscheidend gewesen, sagt der CIO Simon Maurer. Mit dem neuen Anbieter sei man «substanziell» kostengünstiger unterwegs. Genaue Zahlen will er nicht nennen.
Die TX Group nutzte bei SAP zuvor hauptsächlich die Finanz- und HR-Funktionalitäten. Diese zu wechseln, ist bedeutend einfacher als etwa das System für die Planung der Logistikprozesse. So hat die Migros den Wechsel dieser Systeme bereits abgeschlossen – der grössere Brocken mit der Logistik folgt erst noch.
Einen ganz anderen Weg geht indes der deutsche Discounter Lidl. Dieser setzt seit über drei Jahrzehnten auf die Eigenentwicklung Wawi, wollte das System ab dem Jahr 2012 aber mittelfristig durch SAP ersetzen. «In den Ländern Serbien, Österreich, USA und Nordirland wurde SAP eingeführt», sagt Walter Wolf, Vorstand von Lidls IT-Dienstleister Schwarz Digits. Nach fünf Jahren und Kosten von rund 500 Millionen Euro wurde das Projekt gestoppt und die vier Länder wieder auf Wawi zurückgeführt. Wawi sei perfekt auf Lidl abgestimmt, während bei SAP viele Prozesse hätten nachgebaut werden müssen, erklärt Wolf. Von den Vorteilen der Cloud-Technologie will Lidl trotzdem profitieren, aber im eigenen Rechenzentrum. Schwarz Digits baut derzeit das eigene Wawi-System entsprechend um.
SAP weist die Kritik zurück, man nutze die Abhängigkeit der Kunden aus. Zur Kritik am Vendor-Lock-in sagt Sabrina Storck, Co-Managing Director von SAP Schweiz, dass die «Grenzen zwischen Kunden, Partnern und Wettbewerbern immer mehr verschwimmen». Ökosysteme seien wichtig, um sich ergänzende Fähigkeiten zusammenzubringen. Sie gibt aber auch zu, dass eine starke Kundenbindung wichtig sei für SAP. Ein neuer Vorstandsbereich soll sicherstellen, «dass Kunden Innovationen schnell übernehmen und nutzen sowie die Vorteile der Cloud vollständig erschliessen».
Kundinnen und Kunden, die ihre Daten nicht in die Cloud migrieren wollen, verspricht Storck «S/4-Hana-Support und -Wartung bis 2040». Nach diesem Zeitpunkt sei es wohl für alle unumgänglich, in die Cloud-Welt zu migrieren. Diese Aussage gibt Unternehmen einen Aufschub, doch der Druck, langfristig in die Cloud zu wechseln, bleibt bestehen. Variabel ist nur der Zeitpunkt. Denn der Zwang erstens zu S/4 Hana und zweitens zur Cloud bleibt.
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Zwischen Abhängigkeit und Alternativen
Die Kritik an SAP ist nicht neu, doch die erzwungene Cloud-Migration auf S/4 Hana hat die Unzufriedenheit vieler Kunden auf ein neues Level gehoben. Konzerne wie die Migros oder das Universitätsspital Zürich sehen sich gezwungen, immense Summen in Projekte zu investieren, deren Nutzen oft nur schwer messbar ist. Der sogenannte Vendor-Lock-in bindet Unternehmen an SAP und erschwert Alternativen – eine Abhängigkeit, die nicht nur Frust, sondern auch Kosten verursacht.
Ob SAP seine Marktdominanz langfristig halten kann oder ob die Kritik am Lock-in und an den steigenden Kosten letztlich zu einem Umdenken führt, bleibt abzuwarten. Sicher ist jedoch: Unternehmen sollten künftig stärker darauf achten, wie sie ihre IT-Landschaft gestalten – und welche Macht sie einem einzelnen Anbieter überlassen wollen. Das gilt nicht nur für SAP, sondern auch für Anbieter aus anderen Bereichen wie zum Beispiel Microsoft.
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https://www.nzz.ch/wirtschaft/das-teuerste-software-update-der-welt-wie-der-deutsche-sap-konzern-seine-macht-ausnutzt-ld.1859562
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