Im Buch 1984 wurden ältere Zeitungsartikel von einer Zensurbehörde umgeschrieben, um für das aktuelle Staatsnarrativ passend zu sein, oder gleich ganz vernichtet. Nun rückt Telepolis mit einer gar nicht so unähnlichen Praxis in die Kritik.
Der neue Chefredakteur des Magazins Telepolis wird vom „Desinformationsdetekor“ NewsGuard, das Medien auf ihre (angebliche) Vertrauenswürdigkeit bewertet, bestens beurteilt. Volle Punktzahl und absolut glaubwürdig sei Telepolis, und 1996 gegründet wurde. Aktuell wird eine „Qualitätsoffensive“ betrieben, dazu gehört auch die massenhafte Löschung älterer Texte.
Dazu die aktuelle Meldung des Online-Magazins Multipolar:
Telepolis, eines der ältesten Online-Magazine Deutschlands, informierte am Freitag (6. Dezember) darüber, alle Artikel, die vor dem Jahr 2021 veröffentlicht wurden, vollständig gelöscht zu haben. In jenem Jahr hatte der aktuelle Chefredakteur Harald Neuber die Leitung des Magazins von seinem Vorgänger Florian Rötzer übernommen, der Telepolis 1996 gegründet hatte. Zur Begründung für die massenhafte Löschung, der schätzungsweise mehr als 50.000 Artikel zum Opfer fallen, schreibt Neuber, man habe die Texte „zunächst aus dem Archiv genommen“, da man „für deren Qualität nicht pauschal garantieren“ könne. „Keinesfalls“ handle es sich um „ein Misstrauensvotum gegen frühere Autoren und damalige Beiträge heutiger Autoren“. „Wir mussten aber einsehen“, so der Chefredakteur, „dass es keine realistische Möglichkeit gibt, die enorme Menge von Artikeln aus gut 25 Jahren hinreichend zu prüfen.“
Im Widerspruch dazu heißt es im Text der Erklärung, die Redaktion werde nun „die alten Inhalte systematisch und so schnell wie möglich sichten und – soweit sie noch einen Mehrwert bieten – nach unseren Qualitätskriterien bewerten und überarbeiten.“ Eine Nachfrage von Multipolar, was mit „bewerten und überarbeiten“ gemeint sei und ob die Texte nun umgeschrieben werden sollten, ließ Neuber zunächst unbeantwortet – ebenso die Frage, woraus abgeleitet werde, dass ein Chefredakteur die vor vielen Jahren publizierten Artikel, die seine Vorgänger zu verantworten haben, prüfen müsse.
Die Kritik an dem in der deutschen Medienlandschaft bislang beispiellosen Vorgehen ist scharf. Telepolis-Gründer Florian Rötzer erklärte, Telepolis betreibe: „stalinistische Cancel Culture“ und lösche „fast 25 Jahre Geschichte unter anderem des Internets, um sich dem Mainstream unkritisch und marktkonform anzupassen“. Das Magazin wolle „Geschichte korrigieren oder verfälschen“, kritisierte Rötzer. Unter seiner Leitung hatte Telepolis seinerzeit mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter den Grimme Online Award.
Neuber betonte in seiner Erklärung hingegen das von ihm selbst erreichte journalistische Niveau und begründete dies mit einer Einschätzung durch das US-Bewertungsportal NewsGuard, welches Telepolis „mit der vollen Punktzahl als ‚sehr glaubwürdig‘“ einstufe. NewsGuard wird derzeit von einem Ausschuss des US-Parlamentes untersucht wegen des Vorwurfes, mit seinem Bewertungssystem die Meinungsfreiheit einzuschränken und als „intransparenter Teil von Zensurkampagnen“ zu agieren. Laut einer Multipolar-Recherche steht NewsGuard der US-Regierung nahe und ist in seiner Arbeit durch zahlreiche Interessenkonflikte kompromittiert.
Telepolis-Autorin Sabine Schiffer hält die aktuelle Löschung für „den Anfang vom Ende des Projekts“ und bemängelt fehlendes Rückgrat. Die Redaktionsleitung gehe „den geduckten Weg“ und setze „fatale Signale“. Vieles, was auf dem Portal „einst kontrovers war (und deshalb besonders gut und aufwändig belegt werden musste)“ habe sich „inzwischen bewahrheitet“. Doch „die Dokumentation der eigenen frühen und mutigen Leistung ist nun weg“, so Schiffer, die als Professorin an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Frankfurt am Main lehrt. Telepolis-Autor Philipp von Becker, dessen neuere Texte weiterhin aufrufbar sind, die älteren aber ebenso vollständig gelöscht, spricht von einer „Unverschämtheit und Dreistigkeit, das als ‚Qualitätsoffensive‘ zu verkaufen“. Neuber „zerstöre“ Telepolis. Marcus Klöckner, ein weiterer langjähriger Autor des Magazins, erklärte gegenüber Multipolar, Telepolis habe „über zwei Jahrzehnte im positivsten Sinne ein Stück deutsche Mediengeschichte geschrieben“, nun jedoch sei der „Untergang eines Magazins“ zu erleben, „dessen Wurzeln abgeschlagen werden“.
Bereits im Februar hatte Telepolis allen vor 2021 erschienenen Artikeln pauschal eine distanzierende Warnmeldung („Disclaimer“) vorangestellt, wonach diese Texte „möglicherweise in Form und Inhalt nicht mehr den aktuellen journalistischen Grundsätzen der Heise Medien und der Telepolis-Redaktion“ entsprächen. Gegenüber Multipolar hatte Neuber damals erklärt, er könne „nicht alle Inhalte, die vor meiner Zeit als Chefredakteur erschienen sind, überarbeiten (lassen)“ und sich daher für den Warnhinweis entschieden. Nach Kritik war dessen Formulierung später stillschweigend geändert worden.
Bild „Telepolis Künstliche Intelligenz“ by Heise Gruppe is licensed under CC BY-SA 3.0.
Fast wie in Orwells 1984: Retroaktive Zensur bei Online-Magazin Telepolis