28. April 2025

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Fehlt Ihnen was? – Der Mangelguru hat’s

 

Im Leben gibt es zwei Arten von äußeren Ursachen für chronische Krankheiten: wir erhalten von irgendetwas zu viel oder zu wenig. Vergiftung und Mangel sollten sich einigermaßen die Waage halten.

Während man in früheren Jahrhunderten nicht zu Unrecht erst einmal Vergiftungen vermutete und auf Entleerungsbehandlungen wie Abführ- und Brechmittel sowie Aderlässe setzte, hat die Medizin dies inzwischen ad acta gelegt. Ob orthodoxer Schulmediziner oder Guru der Alternativmedizin – heute haben Mangelursachen Vorrang: wir hätten ein Defizit an Jod, Vitamin D, Lithium oder Magnesium. Wer trifft häufiger ins Schwarze: die Vergiftungstheoretiker oder die Mangelgurus?

Im Zeitalter der Analyse von Körperflüssigkeiten sollten Vergiftung oder Mangel leicht zu klären sein. Man nehme eine für die Bevölkerung repräsentative Gruppe von Menschen, die sich gesund fühlt, und bestimme alle möglichen Substanzen in Blut und Urin. Vorhandensein und Höhe des Messwerts entscheiden dann über den „Normalbereich“ bzw. darüber, ob ein Nachweis grundsätzlich krankhaft ist. Was so einfach erscheint, stellt sich in der Praxis weit komplizierter dar. Der Mangel muss schon eklatant sein und nicht durch körpereigene biochemische Pfade kompensiert werden. So einfach wie beim Skorbut von Matrosen ohne ausreichende Versorgung mit Vitamin C sind die wenigsten Versorgungssituationen.

Blutspiegel von Substanzen im „Normalbereich“ garantieren so wenig eine ausreichend Versorgung des Körpers wie die reichliche Präsenz von Lkws auf den Autobahnen volle Ladenregale für die Bevölkerung. Die gesamte Logistikkette muss stimmen. Eine Lkw-Zählung für Autobahnen analog einer Stichprobe aus der Blutbahn ist nicht einmal ein Anhaltspunkt: vor 40 Jahren hätte man trotz Vollversorgung vergleichsweise wenig Lkws gezählt, weil mehr Güter regional produziert wurden oder auf der Schiene waren.

Auch nützt ein reichliches Angebot in den Transportbahnen der Gefäße nichts, wenn sie nicht dort ankommen, wo sie gebraucht werden. So kann der Rezeptor auf der Zelloberfläche durch Gifte oder im Rahmen entzündlicher Prozesse blockiert sein. Reichlich vorhandenes Vitamin D kann dann gar nicht andocken und in die Zelle aufgenommen werden. Der Blutspiegel ist hoch, aber die Zellen unterversorgt. Mehr Vitamin D in den Blutbahnen hilft dem nicht ab.

Andererseits bedeutet ein unterhalb des Normalbereichs liegender Blutspiegel noch lange nicht, dass eine Unterversorgung oder gar Krankheit bestehen. Wenn trotz geringem zirkulierendem Angebot die Rezeptoren belegt werden können, ist die Versorgung dennoch gesichert. Eine Erhöhung des Blutspiegels durch Zufuhr der Substanz beseitigt dann einen „krankhaften“ Laborbefund, eine Verbesserung des körperlichen Zustands ist jedoch nicht zu erwarten.

Wir sollten uns auch immer im Klaren sein, dass kein angeblicher Mangelstoff isoliert zugeführt werden kann. Es gibt immer eine chemische Umgebung und Beistoffe. Jedes Metallion mit positiver Ladung benötigt zumindest ein negativ geladenes Gegen-Ion. Wer Kalium zu sich nimmt, schluckt immer auch Chlorid oder Sulfat… Wer nehmen ohnehin das in uns auf, was unsere Darmbakterien für uns aufbereiten und nicht das, was wir schlucken.

Kompliziert wird alles dadurch, dass die Laborwerte für viele Substanzen in niedrigen Konzentrationen stark vom Testkit abhängig sind. Werte aus verschiedenen Labors, die mit unterschiedlicher Technik arbeiten, sind oft nicht vergleichbar. Entsprechend werden sicherlich reichlich Mangelzustände oder Therapieerfolge „gemessen“, bei denen es sich lediglich um Effekte der Messtechnik handelt. Für Bestimmungen des Vitamin-D-Spiegels sind diese Messeffekte notorisch. (Siehe: Altieri B et al.: Vitamin D testing: advantages and limits of the current assays. Eur J Clin Nutr 2020; 74:231–47)

Das ist längst noch nicht das ganze Problem. Bestimmt man die „Normalwerte“ in einer Gruppe von Menschen mit sehr ähnlichen Lebensbedingungen, stellt man einen engeren Normalbereich fest, als wenn sich die Lebensbedingungen stark unterscheiden. Niedrige Blutwerte einer Substanz bedeuten dann noch lange keine gesundheitsschädigende Mangelsituation. Schließlich verfügen wir dank Evolution über ein breites Register an Anpassungsstrategien.

Grundsätzlich gilt für die menschliche Biologie, dass wir mit einem Mangel weit besser klar kommen als mit einem Überangebot. Warum? Ganz einfach, weil Nahrungsmangel in der Evolution viel häufiger bestand. Überangebote waren abgesehen von Umweltgiften selten. Daher treten auch beim Unterschreiten von „Normalbereichen“ heutiger Menschen noch lange kein Gesundheitsprobleme auf. Menschen, die große Teile des Jahres ohne Tageslicht zubringen (früher Bergleute, heute viele Dienstleister in Dunkelgebäuden) weisen keine erhöhte Frequenz von Krankheiten auf, die eindeutig einem Mangel an Vitamin D zuzuordnen wären.

Anders sieht es bei Überangeboten wie heutzutage mit Jod oder dem in der Natur überhaupt nicht vorkommenden Aluminium aus. Wenn die Zufuhr die Ausscheidungskapazitäten überschreitet, müssen die Substanzen irgendwo gespeichert oder anderweitig verstoffwechselt werden. Die Ablagerung im Gewebe kann dabei Funktionsstörungen bedingen. Das vom Körper überhaupt nicht benötigte, weil gar nicht natürlich vorkommende Aluminium ist nerventoxisch. Jod wird in der Schilddrüse für die Hormonherstellung benötigt, so dass ein Überangebot die Hormonproduktion anheizt.

Messwerte sind für Mangelkrankheiten nur sogenannte Surrogatparameter, also Messwerte, die nicht das messen, worauf es wirklich ankommt: intakte biochemische Prozesse. Entscheidender als Blutwerte sind tatsächliche Krankheitserscheinungen, die spezifisch für einen bestimmten Mangel sind. Letzteres trifft nur für sehr wenige Symptome zu. Die meisten Krankheitserscheinungen können auf verschiedenen Ursachen beruhen. Für einen Mangel an Vitamin D ist einzig und allein eine Knochenerweichung (sogenannte Osteomalazie) beweisend. Für einen Mangel an Magnesium oder Lithium gibt es dagegen überhaupt keine Symptome, die nicht auf andere Ursachen zurückzuführen sein könnten.

Gurus eines Vitamin-D-Mangel müssten also bei jedem Verdachtsfall eine Knochenbiopsie durchführen lassen, um eine sichere Behandlungsgrundlage für den tatsächlichen Mangel zu haben. Wenn dies aber unterbleibt, scheint es auf Evidenz nicht anzukommen. Für Lithium oder Magnesium gibt es diese spezifischen Gewebenachweise gar nicht.

Fazit

Vermeintliche Mangelerscheinungen genießen weit mehr Aufmerksamkeit als mögliche Vergiftungen, weil man das fehlende Substrat zur Therapie verkaufen kann. Die Korrektur eines Überangebots erfordert hingegen den Verzicht auf etwas oder die Vermeidung einer Exposition. In beiden Fällen kann man nur das Angebot einer „Ausschleusung“ oder „Entgiftung“ machen, wofür es nur in wenigen Fällen überhaupt Substanzen gibt, die die körpereigenen Mechanismen unterstützen.

Mangel-Diagnosen sind weit häufiger als Diagnosen von Vergiftungen, weil sie das bessere Geschäftsmodell sind. Vorsorglich hat man im Laufe der letzten Jahrzehnte die meisten toxikologischen Institute aufgelöst. Dementsprechend gelten chronische Vergiftungen durch Überdosierungen oder Umwelttoxine fälschlicherweise als Raritäten. Wer sich mit traditioneller Mischkost aus möglichst wenig verarbeiteten Produkten ernährt, braucht sich um einen Mangel an Vitaminen und Spurenelementen keine Gedanken zu machen: „Der Weg zu deiner Gesundheit führt durch die Küche und nicht durch die Apotheke“, wusste schon Sebastian Kneipp.

Fehlt Ihnen was? – Der Mangelguru hat’s