Kasan/Brasília. „Wir können es nicht hinnehmen, dass beim Zugang zu Impfstoffen und Arzneimitteln ‚Apartheid‘ herrscht, wie es bei der Pandemie der Fall war, und auch nicht bei der Entwicklung der künstlichen Intelligenz, die darauf zusteuert, zum Privileg einiger weniger zu werden“. Mit diesen Worten hat Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva seine Sicht auf den Zweck der 2006 gegründeten Brics-Gruppe konkretisiert.
Das Staatenbündnis hielt vom 22. bis 24. Oktober seinen 16. Gipfel im russischen Kasan ab.
Lula hatte wegen eines häuslichen Unfalls seine persönliche Anwesenheit abgesagt und war für seinen Beitrag per Video zugeschaltet. Er beklagte in seiner Rede weltweit zunehmende Sichtweisen, die darauf bestünden, die Welt in Freunde und Feinde zu unterteilen. „Die Schwächsten interessieren sich nicht für Schwarz-Weiß-Malereien. Was sie wollen, sind Nahrung, menschenwürdige Arbeit und hochwertige, allgemein zugängliche öffentliche Schulen und Krankenhäuser“, so der Präsident.
„Sie wollen eine gesunde Umwelt, ohne klimatische Ereignisse, die ihr Überleben bedrohen. Es geht um ein Leben in Frieden, ohne Waffen, die unschuldige Menschen zu Opfern machen“. In diesem Zusammenhang zitierte Lula eine Äußerung des türkischen Präsidenten Recep Erdogan vor der UN-Vollversammlung, dass der Gazastreifen „der größte Friedhof für Kinder und Frauen in der Welt“ geworden sei.
Auch im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland sei die Verhinderung einer Eskalation und die Aufnahme von Friedensverhandlungen von entscheidender Bedeutung. Während die Welt mit zwei Kriegen konfrontiert sei, „die das Potenzial haben, sich global auszuweiten“, müsse die Fährigkeit zur Zusammenarbeit zugunsten gemeinsamer Ziele wiedererlangt werden, betonte er.
Brics ist nach Lulas Überzeugung ein „wichtiger Akteur bei der Bekämpfung des Klimawandels“. Es bestehe „kein Zweifel daran, dass die größte Verantwortung bei den reichen Ländern liegt, deren Emissionsgeschichte zu der Klimakrise geführt hat, von der wir heute betroffen sind“. Er lud zu den großen weltweiten Foren zu diesem Thema ein und betonte, dass an nicht eingehaltene Versprechen erinnert und die Kontrolle eingegangener Verpflichtungen verstärkt werden müssten.
Brasilien wird am 1. Januar 2025 den Vorsitz, der jährlich routiert, von Russland übernehmen. Sein Land werde den „Kampf für eine multipolare Welt und für weniger asymmetrische Beziehungen zwischen den Ländern bekräftigen“, erklärte Lula in seinem Beitrag.
Dazu gehöre die Stärkung der technologischen Fähigkeiten und die Förderung „nicht-exklusiver multilateraler Rahmenwerke“, in denen „die Stimme der Regierungen Vorrang vor privaten Interessen“ haben müsse.
Die Brics-Staaten umfassten heute schon mehr als 3,6 Milliarden Menschen, die Teil „dynamischer Märkte mit hoher sozialer Mobilität“ seien. Auf diese entfielen 36 Prozent des weltweiten BIP nach Kaufkraftparität. Sie verfügten über 72 Prozent der Seltenen Erden, 75 Prozent des Mangans und 50 Prozent des Graphits der Welt. „Die Finanzströme fließen jedoch weiterhin in die reichen Nationen“, wodurch „die Schwellen- und Entwicklungsländer die Industrieländer finanzieren“. Die Brics-Initiativen und -Institutionen würden jedoch „mit dieser Logik brechen“, zeigte Lula sich überzeugt.
Das Motto des brasilianischen Ratsvorsitzes werde „Stärkung der Zusammenarbeit im globalen Süden für eine integrativere und nachhaltigere Regierungsführung“ lauten.
In Kazan sind zwei weitere lateinamerikanische Länder, Bolivien und Kuba, als neue assoziierte Mitglieder aufgenommen worden (amerika21 berichtete). Indes gehörte Venezuela, das für diesen Schritt die Unterstützung Chinas und Russlands genießt, wegen der fehlenden Zustimmung von Brasilien nicht dazu.
Venezuelas Präsident Nicolás Maduro war auf Einladung Russlands nach Kasan gereist, um am Brics-Gipfel teilzunehmen.
Während seines Aufenthalts betonte er die große Bedeutung der Brics für den Aufbau einer multipolaren Welt. Die Vereinigung sei „das Epizentrum“ dieser neuen Ordnung, die den Ländern des Globalen Südens Zugang zu einer Wirtschaft ermögliche, die nicht auf Sanktionen oder Erpressung beruhe, so Maduro. Er erklärte weiter, dass es seine „größte Erwartung“ sei, „zum Aufbau einer neuen, nicht-kolonialistischen Welt“ beizutragen. Sein Land halte ein „Portfolio an Möglichkeiten“ vor, das es für eine Integration attraktiv mache.
Die spanische Zeitung El País interpretierte das Veto Brasiliens als einen Ausdruck von Verstimmung zwischen den Regierungen von Brasilien und Venezuela nach den Präsidentschaftswahlen am 28. Juli. Das Wahlgericht hatte Maduro zum Wahlsieger erklärt, die detaillierten Abstimmungsergebnisse aber bis heute nicht veröffentlicht (amerika21 berichtete).
Der Berater der brasilianischen Regierung für internationale Angelegenheiten, Celso Amorim, erläuterte die Position seines Landes nur im Allgemeinen. Schlussfolgerungen hinsichtlich Venezuela seien vielleicht noch nicht möglich. „Wir fällen keine moralischen oder politischen Urteile über das Land selbst. Die Frage ist, ob sie aufgrund ihres politischen Gewichts und ihrer Beziehungsfähigkeit in der Lage sind, zu einer friedlicheren Welt beizutragen“, so Amorim.
Misión Verdad, eine dem Chavismus nahestehende Recherche- und Analyse-Plattform sieht andere Hintergründe der brasilianischen Position. Diese beinhalte einen Wechsel, nachdem Lula sich im vergangenen Jahr noch offen für die Aufnahme Venezuelas zeigte.
Die Teilnahme Venezuelas an den Brics würde den Ansatz von Lula schwächen, die strategischen Beziehungen Brasiliens zu Washington und Brüssel aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Brics zu wahren.
Das große karibische Land könnte zu einem unbequemen Verbündeten werden. Der Konflikt zwischen Caracas und Washington, der sich nach den US-Präsidentschaftswahlen im November weiter verschärfen könnte, würde bedeuten, dass Brasilien seinen venezolanischen Partner in der Brics-Gruppe gegen Washington unterstützen müsste.
Brasilien wäre angehalten, eine aktive politische und wirtschaftliche Beziehung zu Venezuela aufrechtzuerhalten und damit die Sanktionen und die vom Weißen Haus propagierte Missachtung der Präsidentschaft von Maduro in Frage zu stellen.
Lula sehe dieses potenzielle Dilemma und habe daher beschlossen, sich dem Beitritt Venezuelas zu widersetzen, um die politischen Kosten in den Beziehungen zu den USA und der EU zu verringern, so die Schlussfolgerungen von Misión Verdad.